OnlineItalien 04.2024

6 ITALIEN Flaco Hits a Window: New Yorker trauern um einen freiheitsliebenden Uhu „Glaubt es mir – das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heißt: gefährlich leben.“ Dieser Satz wird Friedrich Nietzsche zugeschrieben. Wer hat nicht so alles nach diesem Motto gelebt und ist früh gestorben. Nun auch Flaco. Flaco war am 15. März 2010 im Bundesstaat North Carolina aus einem von seiner Uhu-Mama ausgebrüteten Ei geschlüpft. Dann ging es für Flaco in den Zoo des Central Parks. Zwölf Jahre verbrachte er dort in einem Maschendrahtgehege von der Größe einer Bushaltestelle, ausgestattet mit künstlichen Felsen, ein paar Ästen und aufgepinseltem Hintergrund. „Flaco: Eurasian EagleOwl (Bubo bubo)” stand auf einer Hinweistafel, Lebenserwartung 30 Jahre in Gefangenschaft, deutlich weniger in freier Wildbahn. Dazu noch die Erläuterung des Namens „Flaco“, nämlich spanisch für „dünn“. Nun lässt sich trefflich darüber streiten, ob Flaco nur deswegen dünn geblieben war, weil er sich im Zoo nicht wohlfühlte, weil er seine Freiheit vermisst hat, die aufregende Suche nach einer Fortpflanzungspartnerin und die unregelmäßige von Erfolg gekrönte Nahrungs-Jagd. Wilde Tiere hinter Gittern, da haben wir Deutschen seit Rilkes „Panther“ schon einen Rappel. Rainer Maria hatte im Jardin des Plantes in Paris eine gefangene Wildkatze in der dritten Gedichtstrophe mit den Worten beschrieben: „Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille – sich lautlos auf. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.“ Das weicht selbst harte Herzen auf und führt uns die brutale Frage vor Augen: Was machen wir da in den Zoos in Wuppertal und anderswo? Wir bewahren manche Spezies vor dem sicheren und in der Regel durch uns Menschen verursachten Aussterben, wir nähren vielleicht Tierliebe im eigenen Nachwuchs und können uns ein wenig an Nietzsche erfreuen, weil wir auf der für uns richtigen Seite des Maschendrahtzauns stehen. Mit Schnitten in das Gehege begann am 2. Februar vergangenen Jahres die VogelFreiheit von Flaco. Die Polizei ermittelte wegen Vandalismus, die Verantwortlichen des Zoos befürchteten, Flaco könne in Freiheit nicht überleben, und die öffentliche Meinung der Stadt zerfiel in zwei Lager, nämlich in die der Freiheitlichen (FDP) und die der Fürsorglichen (SPD/Grüne). Letztere mahnten ob der vielen Gefahren, denen ein freier Vogel in der Stadt ausgesetzt sei, Autoverkehr, Rattengift, Tauben mit hohen Bleiwerten, riesige und weitgehend durchsichtige Fensterflächen und dergleichen mehr. Die FDP meinte, man solle doch erst mal schauen, wie sich Flaco in der Stadt zurechtfinden würde. Flaco entschied selber: Er ließ sich von SPD/Grüne nicht wieder einfangen und machte es sich irgendwo im Central Park bequem. Hunger schob er dort offensichtlich nicht. schon bald waren zahlreiche von ihm hochgewürgte Gewölle im Park zu finden. Das machen Uhus mit all dem unverdaubaren Zeugs, was an ihren Fressopfern so dran ist. Fell, Knochen, Eisen, Sehnen, Zähne, Krallen, Federn, Lumpen und Papier aus denen Ratten, Eichhörnchen oder Tauben außer ihrem zarten Fleisch sonst noch bestehen, wird zu einem runden Würstchen geformt und wieder rausgewürgt. Schaut der Fachmann sich ein Gewölle an, weiß er, ob es dem Uhu oder in unserem Fall Flaco gut geht. Und es ging Flaco gut, ziemlich gut sogar. Er nahm augenscheinlich ein wenig an Gewicht zu und begann, sich auch für die Stadt außerhalb des Central Parks zu interessieren. Hunderte Sichtungen wurden gemeldet. Flaco wurde zu einem Symbol für Freiheit und wir drückten Flaco alle Daumen, dass es möglichst lange dauern würde, fürchteten aber auch seinen unzeitigen Tod. Am 23. Februar ist Flaco im Alter von fast 14 Jahren gegen eine Glasscheibe geflogen und gestorben. Ein Jahr in Freiheit hatte er, ein wohl ziemlich gutes Jahr. Ohne seinen Ausflug in die Freiheit hätte er gute Chancen auf weitere 15 Käfigjahre gehabt. Eine nach ihm benannte Formel lautet: Ein Jahr in Freiheit und in New York City ist mindestens genauso viel wert wie 15 Jahre in einem Käfig, selbst wenn dieser im Central Park steht.

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