ITALIEN 11 Happy Hour in Hell’s Kitchen, 3 pm: New York feiert den Eurovision Song Contest ABBA ist lange her, und das Interesse New Yorks am Eurovision Song Contest war für 40 Jahre in einem Dornröschenschlaf versunken, und vielleicht ist das ja schon die gute Nachricht. Genaugenommen muss man allerdings sagen, das Interesse des queeren New Yorks war eingeschlafen, denn die straighten Bevölkerungsgruppen in Queens, Brooklyn, Manhattan und der Bronx hatten „Waterloo“ eher nicht im Plattenschrank. Das war im West Village, in Chelsea und Hell’s Kitchen, den Hochburgen des queeren New York, anders. Da standen Marianne Rosenberg, Yma Sumac, Queen, David Bowie und die Village People Schulter an Schulter, gelegentlich fuhr auch der „Zug nach Nirgendwo“, nicht zu verwechseln mit dem „A-Train“ von Duke Ellington. Der Eurovision Song Contest schlug also keine Wellen mehr, bis es sich schlagartig 2014 änderte. Conchita Wurst war seinerzeit der Beitrag Österreichs zum europäischen Festival der Vielfalt und des fleischgewordenen „über Geschmack kann man nicht streiten“. Conchitas Ruf, wie Phönix aus der Asche zu neuer Glorie aufzusteigen, wurde „in der Szene“ mit Begeisterung aufgenommen. Nicht nur, dass der größte Conchita Wurst Fan-Club (CWFC) in den USA in Hell’s Kitchen zu Hause ist, nein: Hell’s Kitchen ist auch der nordamerikanische Ort, an dem der Eurovision Song Contest wohl mit der besten Laune gefeiert wird. Epi-Zentrum scheint in diesem Jahr wieder die Rise Bar gewesen zu sein, benannt nach Conchitas „Rise Like A Phoenix“ und Postanschrift des CWFC. Dort hatte man sich in diesem Jahr etwas Besonderes einfallen lassen, nämlich die normalerweise erst um 18 Uhr beginnende Happy Hour um drei Stunden auf 15 Uhr vorzuverlegen, auf 3 pm. Happy Hour heißt: Drinks zum halben Preis und Margaritas noch günstiger. Bei billigem Fusel platzte der Laden aus allen Nähten, ganz so, als sei Super Bowl. Auch die riesigen Monitorwände in der Bar und auf dem Bürgersteig davor erinnerten am 17. Mai an ein großes Sportereignis und selbst Wetten wurden ausgetauscht. Ganz vorne bei den Buchmachern lag „Bara Bada Bastu”, der finnisch-schwedische Beitrag über die Vorzüge des Saunierens. In Hell’s Kitchen war man allerdings anderer Meinung. Nichts gegen die Sauna, aber „Wasted Love“ von einem österreichischen Countertenor mit einem schönen bürgerlichen Namen wie Johannes Pietsch ist für einen queeren Geschmack kaum zu toppen. Als JJ – so der Künstlername von Herrn Pietsch – in den Refrains des Lieds die stimmlichen Höhen erklomm, die normalerweise den Mezzo-Sopranistinnen dieser Welt vorbehalten sind, gab es in der Rise Bar und auf den Gehsteigen von Hell’s Kitchen kein Halten mehr. Weil sich wohl jeder mal in einer emotionalen Überforderungssituation befunden hat, fiel das Mitfühlen nicht schwer, die günstigen Margaritas taten das Ihrige hinzu und gleichzeitig weinend und lachend lag man sich in den Armen. Diese österreichische Sternstunde sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass „die Szene“ den Eurovision Song Contest vor allem wegen der schrägen Vielseitigkeit liebt, das bunte Miteinander von offen sexualisierenden Beiträgen wie das „Ich komme“ von Erika Vikman, über normalen Schmalz des für Holland auftretenden, aber auf französisch und englisch singenden Claude Kiambe und eher politisch zu verstehenden Liedern wie „New Day Will Rise“ der Israelin Yuval Raphael, bis hin zu in baltischem Italienisch vorgetragenen „Espresso Macchiato”, dem Beitrag des Esten Tommy Cash. Der heißt vermutlich ganz anders, aber gerade das ist für die New Yorker ein wichtiger Teil des Vergnügens. Es werden beim Eurovision Song Contest Grenzen ausgetestet, vorgeblich nur die des guten Geschmacks. In Wirklichkeit aber – und dafür lieben die Menschen Hell’s Kitchen den Wettbewerb – geht es um die Frage, wie grenzenlos Vielfalt sein darf und was sich so alles in einem Europa abspielen kann, in dessen südöstlichem Teil derzeit Krieg herrscht und in dem sich viele Menschen fragen: Sind die Amis unter ihren roten MAGA-Kappen noch ganz richtig im Oberstübchen?
RkJQdWJsaXNoZXIy NDk1NjA=